Fritz Steisslinger – ein Kosmopolit in Böblingen
Es war zum Teil dem Zufall geschuldet, dass Fritz Steisslinger Anfang der 1920er-Jahre nach Böblingen kam. 1891 in Göppingen geboren, wies sein Curriculum Vitae im dritten Lebensjahrzehnt bereits zahlreiche Stationen auf: Nach der Lehre in seiner Geburtsstadt als Metallgraveur bei WMF zog es ihn an die Kunstgewerbeschule in München (1910/11) und an die Kunstakademien in Rom und Venedig (1911–1914). Darauf folgte der Kriegsdienst in Frankreich und Russland. Einen ersten Gegenpol – sicherlich auch zu Regeneration von den Strapazen des Ersten Weltkrieges – bildete ein fester Wohnsitz in Seeburg bei Bad Urach. Nach der Heirat mit Elisabeth Haasis lebte das junge Paar von 1919 bis 1922 in dem kleinen Ort auf der Schwäbischen Alb, dort wurden die Söhne Eberhard und Hans geboren. Das Fernweh überfiel Steisslinger schnell, 1920 unternahm er Reisen nach Venedig und Südtirol.
Ein Erbe von Elisabeth erlaubte es, eine ansehnliche Parzelle von Streuobstwiesen in der damals entstehenden Tannenberg-Siedlung in Böblingen zu erwerben. Bislang standen dort jedoch nur ein paar Villen, teils bewohnt von Offizieren, daher der Name, der sich von der propagandistisch reichlich überhöhten »Schlacht bei Tannenberg« 1914 herleitet. In kürzester Zeit entstand auf einem Teil des neu erworbenen Grundbesitzes das vom Künstler selbst entworfene Atelierhaus mit durchgestalteter Parkanlage. 1922 bezog die Familie das Anwesen, ein Jahr später wurde der dritte Sohn Werner geboren.
Sofort nachdem Fritz Steisslinger in Böblingen ansässig geworden war, begann er, das Künstlerhaus und dessen Umgebung sowie die Stadt Böblingen in Bildern festzuhalten. Einige der größeren Werke sind leider verschollen, haben sich jedoch in Fotografien auf Glasplatte erhalten. Der Wohnort erlaubte dem Maler, obgleich des damals noch ländlichen Charakters, die enge Anbindung an die Kunstszene der Landeshauptstadt, in der sich 1923 die Stuttgarter Sezession gründete. Über diese stand Stuttgart mit den expressiven Kunst-Strömungen in Deutschland im Austausch. Obwohl aktives Mitglied der Sezession zog es Fritz Steisslinger dennoch in die Hauptstadt Berlin, wie seine Reisen 1924 und 1926 zum Zwecke, an die dortige Kunstszene anzuknüpfen, zeigen. 1929 übersiedelte die Familie schließlich für drei Jahre nach Berlin.
Die Hoffnungen, die Steisslinger in den Aufenthalt gesetzt hatte, erfüllten sich nicht. 1931 kehrte er mit der Familie nach Böblingen zurück. Als zwei Jahre später der Nationalsozialismus begann, seine dunklen Schatten zu werfen, dachte Fritz Steisslinger an eine Übersiedlung nach Brasilien, da es durch seine in Rio de Janeiro geborene Ehefrau Verwandte und Bekannte in diesem Land gab. Seine dreimonatige Brasilienreise 1934 und briefliche Dokumente belegen, wie fast schon verbissen Steisslinger auf dieses Ziel hin arbeitete. Aber der Kriegsausbruch 1939 machte alle Pläne zunichte.
Erneut wurde Fritz Steisslinger – und mit ihm seine drei Söhne – zum Kriegsdienst eingezogen, während das Atelierhaus in Böblingen Hauptwohnsitz blieb. 1943 wurde es durch Bombenabwürfe im nebengelegenen Wald beschädigt, war aber weiterhin provisorisch bewohnbar. Steisslinger residierte im Erdgeschoss während seiner Zeit an der Staatlichen Akademie der Künste in Stuttgart. 1946 hatte Theodor Heuss ihn in den Planungsausschuss und schließlich zum Professor berufen.
Seine Ehefrau Elisabeth war inzwischen nach Brasilien zurückgekehrt, schwer belastet vom Verlust der beiden Söhne Werner und Hans im bzw. infolge des Krieges. Für Fritz Steisslinger begann damit eine unstete Zeit zwischen Böblingen und Brasilien. 1948 beendete er seine Lehrtätigkeit in Stuttgart und ließ sich in Teresópolis bei Rio de Janeiro nieder. 1951 kehrte er nach Böblingen zurück. Im Februar 1957 erkrankte er und verstarb am 16. März im Krankenhaus in Tübingen.
Die Lebensgeschichte Fritz Steisslingers dokumentiert die Verwerfungen und Brüche des 20. Jahrhunderts. Ebenso dokumentiert sein Gesamtwerk die wechselhafte Kulturgeschichte seiner Entstehungszeit. Der Maler Steisslinger blieb in seinem Werk weitgehend neutraler Chronist, egal ob er Rio de Janeiro oder Böblingen im Bild festhielt. Oft beobachtete er aus der Distanz, manchmal schwang Ironie mit, manchmal – insbesondere in sein brasilianischen Porträts – Empathie. Ganz selbstverständlich bewegte er sich zwischen unterschiedlichen Ländern, Städten, Lebenswelten. Er wertete nicht, sondern urteilte vom grundsätzlich Menschlichen aus, humanistisch und aufgeklärt im besten Sinne. Es ist also nicht übertrieben, Fritz Steisslinger als einen Kosmopoliten, einen Weltbürger zu bezeichnen.
Markus Baumgart